Jürgen, das Chaos-Schaf. Oder: Der Blick hinter die Kulissen

Die Chaostheorie beschäftigt sich ja grob gesagt mit Ordnungen in speziellen dynamischen Systemen, bei denen man nicht weiß, was rauskommt. Das liegt daran, dass diese Systeme ganz empfindlich von den Anfangsbestimmungen abhängig sind. So ist das auch bei der Keks-Produktion.

Schon geringfügig veränderte Bedingungen, der berüchtigte Flügelschlag des Schmetterlings, können gerade hier langfristig zu einer völlig anderen Entwicklung führen als die eigentlich anvisierte. Eine Kettenreaktion quasi, die schon vor dem großen Back-Event ihren Lauf nehmen kann.

 

Der Keks-Welt den imaginären Mittelfinger zeigen

Man nehme nur einmal an, dass die Person, die für die Teig-Vorbereitung der Oldenburger Shortsheeps zuständig ist, vorher „nur noch schnell“ ins Fitnessstudio will, aus dem „nur noch schnell“ dann allerdings fast zwei Stunden werden und sie etwas gehetzt zu Hause zu einer Zeit ankommt, zu der der Teig eigentlich schon im Kühlschrank  hätte ruhen müssen.

Man nehme weiter an, dass die Ausgangslage sich dann auch noch verschlimmert, als eben jene Person feststellen muss, dass der Ex-Freund nicht nur sämtliche Weihnachtsdeko behalten hat (wieso auch immer), sondern ebenfalls diverse Küchengeräte wie zum Beispiel das Handrührgerät.

Das merkt sie natürlich erst, als das Mehl-Zucker-Butter-Gemisch, das sie aufgrund der ebenfalls nicht vorhandenen Waage (diese hatte allerdings schon immer in ihrem Haushalt gefehlt) Pi mal Daumen in Tassen umrechnen musste, schon in der Schüssel ist. Die fitnessstudiogeplagten Arme müssen also ein zweites Mal ran.

Den Blick starr auf die Uhr gerichtet, drischt sie mit hochrotem Kopf auf den Teig ein, knetet und drückt, was das Zeug hält, stöhnt, ächzt, verzweifelt. Eine zermürbende Knet-Prozedur entspinnt sich, an dessen Ende der Teig wahrscheinlich genauso gestresst ist wie die Kneterin selbst.

Dies wäre eigentlich der Zeitpunkt gewesen, sich mit einer Flasche Rotwein gen Sofa zu verziehen und der Keks-Welt da draußen den imaginären Mittelfinger zu zeigen. Aber man hatte ja versprochen, dass man kommt. Schlimmer noch: Man hatte Ingrid den Backabend quasi aufgezwungen, indem man unbedingt eine Tradition aus dem Vorjahres-Event machen wollte.

Der Teig und ich rafften uns also auf und zogen durch den kalten Abend zu Ingrid.

Dort nahm der Glühwein seinen Lauf. Es wurde geschnackt, gelacht und gebechert. Ingrids Tannenbaum erhält dank wilder Schneespray-Püsterei eine weiße Optik – diverse Mäntel allerdings auch.

GustOL kommt – und mit ihm der zweite Anfang vom Keks-Ende. Verheißungsvoll schwenkt er eine Gran-Reserva-Flasche und säuselt: „Schätzelein, weißte noch die Weinprobe? Ich hab‘ da mal was Leckeres mitgebracht!“ Ein Korkenzieher wird ihm gereicht. Plopp – der nächste Schlag mit dem Schmetterlingsflügel.

 

Schafe mit Bodenhaftung

Die erste Keksbackrunde ist geschafft, die zweite in der Mache. Währenddessen greift der sich dem Backen verweigernde Lokalredakteur zum Kochlöffel und zaubert etwas Deftiges für die gluckernden Mägen. Spaghetti à la Geschonke, ein Gedicht!

Als Timo kommt, ist der Abend eigentlich schon durch. Pegeltechnisch. Die Anfangsbedingungen des Oldenburger-Shortsheeps-Vollender sind dabei genauso schlecht wie die meinen. Gebeutelt vom Spätdienst muss erstmal ein Feierabendbierchen her. Seine Teig-Zuwendungen ziehen sich.

Doch dann kommt Schwung in Timos dynamisches System: Er greift zur Rolle. Mehl wird großzügig auf dem Tisch verteilt, die Ausstechform, die von der Runde zuvor feierlich auf den Namen Jürgen getauft wurde, wird positioniert.

Und dann das: Etwas Rotes schimmert plötzlich aus dem Teig hervor. Abgesplitterter Nagellack! Kollektives Hände-über-dem-Kopf-Zusammenschlagen. Auch das noch! Timo beschwichtigt – ‚Is ja nur an einer Stelle‘ – und rollt tapfer weiter.

Allerdings schwächelt nun auch er. Ob seine Konzentration nachlässt, weil der Tag so lang war oder weil Ingrid hinter ihm die ganze Zeit irgendetwas an seiner Schürze rumzuppelt, darüber rätseln GustOL und ich noch am nächsten Tag.

Auf jeden Fall ist dem sonst so akkuraten Timo die „Rezept-Ordnung“, die eine Keks-Dicke von exakt einem Zentimeter vorsieht, plötzlich ziemlich wurscht, was im Backofen zu einer Eigendynamik führt, die empfindliche Kiefer später vor eine beißerische Herausforderung stellen sollen.

Doch nicht genug der schaflichen Tragödie. Das zweite Blech ist fast geschafft, als der vom Gran Reserva beseelte Boris plötzlich den Glühwein-Gentleman mimen und nachschenken will. Mit einem Schwung steht er auf – und katapultiert das gesamte Blech vom Tisch.

Was sollen wir sagen? Das Schöne bei der Chaos-Keks-Theorie ist ja, dass man die Anfangsbedingungen immer wieder aufs Neue beeinflussen kann. Es sei denn, sie hängen extrem empfindlich von den Protagonisten ab…

To be continued.